GIESSEN/LOLLAR (red). Die Überlieferungsprozesse der ezidischen Religionsgemeinschaft und deren Konsequenzen für die gegenwärtige religiöse Praxis in der europäischen Diaspora standen im Mittelpunkt eines Symposiums mit 100 Teilnehmern zum Thema „Ezidentum: Vom Oralen zum Schriftlichen“, das in den Räumen der Ezidischen Gemeinde Hessen und der Justus-Liebig-Universität (JLU) stattfand. Auch in Deutschland leben infolge zunehmender Migrationsprozesse aus dem Irak und der Türkei derzeit zirka 70 000 Eziden. Den meisten Mitbürgern seien die Anhänger der kurdischen Religionsgemeinschaft aber allenfalls als die in den Orientromanen Karl Mays beschriebenen Teufelsanbeter bekannt, heißt es in einer Pressemitteilung der Gesellschaft für Christlich-Ezidische Zusammenarbeit in Forschung und Wissenschaft (CEG) mit Sitz in Lollar.
Mit dieser Ausgangssituation der Unwissenheit vertraut, zeigte sich auch Prof. Linus Hauser, Vorsitzender der 2011 gegründeten CEG und als Lehrstuhlinhaber der Professur für Systematische Theologie an der JLU, zusammen mit der CEG verantwortlich für Entstehung und Organisation des Symposiums. In seiner Begrüßung riet er zu einem genaueren Blick auf die oftmals abseits der Integrationsinteressen stehenden Anhänger religiöser Minderheiten und verwies auf die im Umgang mit Eziden erfahrene hohe Integrationswilligkeit. Aber auch fern politischer Interessenlagen erweise sich eine nähere Erforschung des monotheistischen Ezidentums als hilfreich und notwendig, um zu einem vertieften Verständnis dieser Religion wie auch des eigenen religiösen Selbstverständnisses zu gelangen.
Dass eine Erforschung des Ezidentums dabei nicht von einer Widerspruchsauffassung von Wissenschaft und Glaube geleitet sein dürfe, betonte etwa Irfan Ortac, Gemeindevorsteher der Ezidischen Gemeinde Hessen und stellvertretender Vorsitzender der CEG. Es gelte die Anfänge einer wissenschaftlichen Erkundung der Eziden zu unterstützen, wobei fortwährend an einer Vermittlung der gewonnenen Erkenntnisse an die Gläubigen festgehalten werden müsse. Im Mittelpunkt des ersten von insgesamt fünf Vorträgen stand mit Sheikh Adi eine Zentralfigur des ezidischen Glaubens. Serhat Ortac zeichnete das tradierte Bild des religiösen Reformators in der Spannung von Mythos und Wirklichkeit nach. Die Überlieferungsprozesse zur Person Sheik Adis bildeten ein gutes Beispiel für die Problemhorizonte oraler Religionstradierung und machten zugleich auf die sich oftmals vollziehende Durchdringung von Historie und Mythos in den ezidischen Glaubensvorstellungen aufmerksam. Chaukeddin Issa zeigte die Bedeutung der sogenannten Qewls, heiliger Hymnen und Gebete der Eziden, auf. Mit Blick auf den Verlust von womöglich mehr als 10 000 Qewls, von denen heute gerademal noch 211 vorhanden seien, plädierte er für eine schriftliche Fixierung und Übersetzung der Texte. Der in Linz lebende Abdulaziz Abdallah gab einen grundlegenden Einblick in Glaubensinhalte und Entwicklungsformen des Ezidentums. Gutes und Böses habe in Gott einen gemeinsamen Ursprung in der von einem Sonnenkult getragenen Religion der Eziden.
In den Vorträgen von Cihan Acar und Dr. Sefik Tagay standen dann die Herausforderungen im Blickfeld, vor die Eziden in der europäischen Diaspora gestellt sind. Acar machte dabei auf die Rolle der Migrantenvereine aufmerksam und zeigte anhand exemplarischer Studien Problemhorizonte und Lösungsansätze im selbstorganisierten Integrationsprozess auf.
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