Renaissance orientalischer Geistesgeschichte im postmodernen Okzident - Zur Gründung der Gesellschaft für Christlich-Ezidische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung

Der 22. Januar 2011 wird für die Eziden in der Bundesrepublik Deutschland zu einem historischen Datum werden. Im hessischen Geiß-Nidda wurde die Christlich-Ezidische Gesellschaft für Zusammenarbeit in Forschung und Wissenschaft (e.V.), mit Sitz in Gießen (Justus-Kilian-Str. 25, 35457 Lollar), gegründet. Die Initiative für die Gründung dieser Gesellschaft ging von zwei katholischen Theologieprofessoren der Gießener Justus-Liebig-Universität, Rudolf Grulich und Linus Hauser, dem evangelischen Pfarrer Dr. Norbert Kotowski und dem Gemeinderatsvorsitzenden der ezidischen Gemeinden in Hessen (e.V.), Irfan Ortac M.A. aus. In Anwesenheit des irakisch – kurdischen Ministers a.D. Namer Kacho aus Dohuk (1999 – 2005), des Generals a.D. Hiseyin Merhan und des Vorsitzenden des Zentralrates der Yeziden in Deutschland Telim Tolan wurden auf der Gründungsversammlung Prof. Dr. Linus Hauser zum Vorsitzenden und Professor Dr. Rudolf Grulich und Irfan Ortac M.A. zu stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Daneben gehören dem erweiterten Vorstand Vertreter sowohl des katholischen, evangelischen und syrisch-orthodoxen als auch des ezidischen Glaubens an.

Leben in Deutschland auch schätzungsweise 70.000 Eziden, beschränkt sich das öffentliche Wissen über diese monotheistische Religionsgemeinschaft zumeist auf die fiktionalen Darstellungen in den Orientromanen von Karl May. Aber auch in der theologischen Fachwelt kursieren Fehlvorstellungen vom Ezidentum als vermeintlicher Geheimreligion. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Das Ezidentum ist keine missionarische Religion, d.h. man wird als Ezide geboren und eine spätere Konversion zum ezidischen Glauben ist nicht möglich. Darüber hinaus beruht der ezidische Glaube auf mündlicher Tradierung. Eine Heilige Schrift, ähnlich der Bibel oder dem Koran, existiert nicht. Weil sich die an Wiedergeburt glaubenden Eziden so in kein gängiges religiöses Schema einordnen lassen, weder dem hinduistischen und buddhistischen, noch dem abrahamitischen (jüdisch-christlich-islamischen) Religionskontext zuzuordnen sind, haben sie keine laute Stimme auf dem öffentlichen Markt der Religionen, wurden und werden übersehen, denunziert und verfolgt. Aus diesem Grund besitzen sie in Deutschland zu Recht seit 1993 den rechtlichen Charakter von Flüchtlingen.

Prof. Dr. Linus Hauser führte aus, dass es wichtig sei, in einer Zeit, in der zu Recht auch an der Universität Gießen über islamischen Religionsunterricht nachgedacht werde und zugleich in den weitreichenden gesellschaftspolitischen Diskursen eine Identifizierung der Kultur des Nahen Ostens mit dem Islam stattfände, auch auf religiöse und oftmals verfolgte Minderheiten dieser Region zu achten. Der von den Vorsitzenden in ihren Reden zur Gründung verurteilte, jüngste Terroranschlag auf die koptischen Christen in Ägypten sei hier ein warnendes Beispiel. Der antizyklische Blick auf die Unbeachteten, betreffe dabei nach Hauser nicht nur die Eziden, sondern auch orientalische Juden, Samaritaner, die kleinen christlichen Denominationen wie syrisch-orthodoxe, armenisch-apostolisch orthodoxe oder koptische Christen, Mandäer, Sabäer, Zoroastrier, Drusen und auch die Bahai.

Daher ist es Ziel der Gesellschaft nicht nur zu einer wissenschaftlichen Aufklärung über das Ezidentum beizutragen, sondern auch an einer Renaissance orientalischer Geistesgeschichte im postmodernen Okzident mitzuarbeiten und dabei eine reduktionistische Kenntnisnahme orientalischer Ideenwelt aufzubrechen. Verdrängte geschichtliche Wahrheiten wie etwa der armenische Genozid oder die Vertreibung der Eziden aus der Türkei sollen dabei ans Licht geführt werden. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Ezidentums im osmanischen Herrschaftsbereich sowie im Kaukasus stelle hierbei einen wichtigen ersten Schritt dar, dem sich die christlich-ezidische Gesellschaft künftig annehmen will.